Agiles Coaching – was heißt das eigentlich?

von Dr. Eva Kinast — Kategorie: Agilität
Agiles Coaching - agile Coach - Coaching

Agiles Coaching – was heißt das eigentlich? – Diese Frage hat mich während meines eigenen beruflichen Werdegangs persönlich sehr beschäftigt. Ich bin ein Agiler Coach, komme aber aus einer ganz anderen Richtung: ich habe Elektrotechnik studiert und mich mit den Jahren hin zu einem zunächst technisch orientierten Consultant entwickelt. So bin ich 2004 zum ersten Mal mit agilen Prozessen in Berührung gekommen. Ich nannte mich dann irgendwann nicht mehr Consultant, sondern „Agile Coach“, hatte aber nur ein vages Gefühl dafür, was der Unterschied zwischen Consulting und Coaching ist. Daher entschloss ich mich, eine Ausbildung zum „Systemic Business Coach“ zu absolvieren. Dabei lernte ich das Handwerkszeug und vor allem auch die Haltung eines Coachs kennen. Diese Ausbildung hat mir geholfen, meine unterschiedlichen „Welten“ miteinander in Einklang zu bringen.

Nun also zurück zu meiner Ausgangsfrage. Der Begriff „agile“ ist in aller Munde – und auch die Rolle des „Agilen Coachs“ wird inflationär gebraucht, ohne dass es eine eindeutige Definition dafür gibt. Wir können diesen Begriff auf unterschiedliche Weise interpretieren:

  1. Coaching von Agilität, d.h. Unterstützung bei der Einführung oder Verbesserung von agilem Vorgehen in Unternehmen
  2. Anwendung von agilem Denken und Vorgehen beim (Einzel-)Coaching

Beide Varianten sind sinnvoll, und ich möchte sie daher kurz erklären.

Was bedeutet „Agile“ oder „Agilität“?

Der Begriff kommt ursprünglich aus der Software-Entwicklung. In den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts kam es zunehmend zu Problemen (s. Bild 1, oben): Software-Systeme wurden immer größer und unüberschaubarer. Die Entwicklung folgte starren, dokumentenlastigen „Wasserfall“-Prozessen (S. Bild 1 oben): Zunächst wurden die Anforderungen, die die zukünftigen Kunden und Nutzer stellten, in einem Anforderungsdokument erfasst, das Hunderte oder sogar Tausende von Seiten umfassen konnte. Die Erstellung dieses Dokuments war natürlich sehr zeitaufwändig. In verschiedenen Phasen (Design, Entwicklung, Test…) arbeiteten Experten in funktionalen Silos an der Umsetzung der Anforderungen. Bei den vielen Übergaben von einem Experten-Silo zum nächsten konnte es zu beliebig vielen Missverständnissen kommen. Bis die Kunden das Ergebnis zum ersten Mal zu Gesicht bekamen, gingen oft Jahre ins Land, so dass die Anforderungen aus dem dicken Dokument gar nicht mehr den Stand der Erwartungen widerspiegelten. Die Kunden waren unzufrieden und die Entwickler frustriert.

agiles Coaching

Um Abhilfe zu schaffen, entstanden verschiedene Varianten von leichtgewichtigen und flexibleren Vorgehensweisen (s. Bild 1, unten). Die heute bekannteste dieser Methoden ist Scrum: Das Anforderungsdokument wird durch ein „Product Backlog“ ersetzt, das Anforderungen in geordneter Reihenfolge enthält. Nur die ersten Anforderungen sind soweit ausformuliert, dass mit der Entwicklung begonnen werden kann. So spart man bereits am Anfang viel Zeit und kann schneller loslegen. Die Umsetzung erfolgt in Iterationen von wenigen Wochen. Nach jeder Iteration entsteht ein „Stückchen“ des fertigen Produktes, das mit den Kunden besprochen werden kann. Die Kunden können direkt Feedback geben und damit die Weiterentwicklung steuern, so dass sie genau das Produkt erhalten, das sie brauchen. Statt der Experten-Silos arbeitet ein funktionsübergreifendes, interdisziplinäres Team an der Umsetzung, das möglichst autonom die Verantwortung für das Produkt übernehmen kann.

2001 trafen sich die Protagonisten dieser neuen Methoden in Snowbird im US-Bundesstaat Utah und formulierten das „Manifest der Agilen Software-Entwicklung“. Das war damals ein revolutionärer Ansatz von Werten und Prinzipien, bei denen es um Kundenorientierung, Flexibilität, Transparenz und Selbstorganisation in Teams geht.

Mittlerweile gehen die Anwendungen von Agilität weit über die Software-Entwicklung hinaus. Immer wenn wir es mit komplexen Problemen zu tun haben, die mit so vielen Unsicherheiten behaftet sind, dass eine langfristige Planung nicht möglich ist, bieten sich agile Vorgehensweisen an. Bild 2 veranschaulicht dies: Unsicherheiten können in zwei Dimensionen auftreten: „Was“ (Was wollen wir überhaupt tun, verfolgen wir das richtige Ziel, haben wir die Anforderungen richtig verstanden?) oder „Wie“ (Wie funktioniert die neue Technologie, eignet sie sich für unsere Zwecke, wie wollen wir die Zusammenarbeit gestalten?).

Agile Coaches
Gerade bei Innovationen sind sowohl das „Was“ als auch das „Wie“ unsicher. Es ist nicht möglich, einen detaillierten Plan zu erzeugen. Stattdessen müssen wir experimentieren und ausprobieren. Für viele Unternehmen, die an Planbarkeit und Kontrollierbarkeit glauben, ist dies ein echter Paradigmenwechsel. Wir sprechen heute von „Business Agility“ und „Agilen Unternehmen“, wenn es darum geht, alle Strukturen und Prozesse und vor allem auch die Kultur eines Unternehmens zu „agilisieren“. Agilität ist ein Mindset von Organisationen und Menschen, das umgesetzt wird durch verschiedene kontextabhängige Methoden und Praktiken.

Was machen „Agile Coaches“?

Im Sinne unserer ersten Definition unterstützt der Agile Coach Systeme und Organisationen auf ihrer agilen Reise. Je nach „Reifegrad“ kann er unterschiedliche Funktionen einnehmen:

  • Als Trainer vermittelt der Coach die Grundlagen für unterschiedliche Gruppen, also z.B. für Scrum-Rollen, Team-Mitglieder, Management.
  • Da der Weg hin zu einem agilen Unternehmen einen Kulturwandel bedeutet, ist er auch mit einer Veränderung des Führungsverhaltens verbunden: Weg von Anweisungen hin zum Ermöglichen von Selbstorganisation. Dies ist für viele Mitarbeiter in klassischen Unternehmen eine neue und ungewohnte Arbeitsweise. Der Agile Coach begleitet sowohl die Führungskräfte als auch die Teams auf diesem Weg.
  • Als Coach und Berater für das Organisationsdesign zeigt der Agile Coach Bereiche auf, die den Erfolg einer agilen Transition entscheidend beeinflussen können: Hierarchien, (interdisziplinäre) Team-Zusammensetzungen, Rollenmodelle, Recruiting-Prozesse, Anreizsysteme, Budget-Prozesse usw. Diese Veränderungen sind ein komplexer Prozess, die auf agile Art und Weise, also Schritt für Schritt mit kurzen Feedback-Schleifen, angegangen werden sollten.Der agile Coach agiert dabei als Facilitator: Er hält der Organisation den Spiegel vor und vertraut auf die Fähigkeit des Systems, sich selbst zu ändern.

Sich selbst zurücknehmen und den Klienten in die Verantwortung bringen: diese Coaching-Haltung ist für viele „Agile Coaches“ (hier bewusst in Anführungsstrichen) nicht selbstverständlich. Viele kommen (wie ich selbst) aus der Software- oder Produktentwicklung oder sind ehemalige Projektleiter. D.h. sie sind es gewohnt, Probleme selbst zu lösen und dafür Verantwortung zu übernehmen. Dies ist oft auch die Erwartung, die an „Agile Coaches“ vom Auftraggeber gestellt wird: „Mach unsere Organisation agil.“ Gerade vom Management sehe ich immer wieder völlig falsche Vorstellungen darüber, was agile bedeutet und welchen Beitrag es selbst dazu zu leisten hat. Hier ein klares Verständnis zu schaffen, ist eine der wichtigsten Herausforderungen für den Agilen Coach.

Wie passen Agilität und Einzelcoaching zusammen?

Vieles von dem, was ich beschrieben habe, wird ein Coach, der mit einzelnen Klienten arbeitet, aus seiner Praxis kennen. Dies möchte ich an ein paar Beispielen verdeutlichen:

  • Ergebnisorientierung: Agilität ist ein Ansatz zur Lösung von komplexen unplanbaren Problemen. Da es sich auch bei einzelnen Menschen um komplexe Systeme handelt, ist ein Coaching-Prozess komplex. Eine agile Entwicklung beginnt damit, sich ein grobes Ziel, eine Vision, einen „Nordstern“ zu überlegen, der die grobe Richtung vorgibt, attraktiv ist und damit wichtig für die Motivation. Das passt sehr gut zum lösungsorientierten Coaching, bei dem wir uns das Ziel vorstellen, das durch den Coaching-Prozess möglich werden soll.
  • Fähigkeit zur Reflexion und Anpassung des eigenen Vorgehens: Agiles Vorgehen bricht das große Ziel auf kleine, machbare Iterationen herunter. Zu Beginn einer Iteration überlegen wir uns, was das „messbare“, wahrnehmbare Ziel dieser Iteration sein sollte, und erstellen einen Plan für die Erreichung dieses Ziels. Am Ende reflektieren wir, ob wir dieses Ziel erreicht haben. Im Coaching-Prozess können wir eine einzelne Coaching-Sitzung oder auch das Zeitintervall zwischen zwei Coaching-Sitzungen als Iteration betrachten. Es hilft, Vereinbarungen über konkrete Schritte, also einen „Iterationsplan“, mit dem Coachee zu erstellen. Der Coach agiert als Beobachter und macht den Coachee darauf aufmerksam, wenn er den Fokus auf sein eigenes Ziel verliert, überlässt die Entscheidung über das weitere Vorgehen aber immer dem Coachee. Bei der Reflexion in der nächsten Coaching-Sitzung geht es nicht darum, zu kontrollieren oder sich über Misserfolge zu ärgern, sondern darum: Wenn das angestrebte Ziel nicht erreicht wurde, was kann der Coachee für die nächste Iteration daraus lernen?
  • Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme: Agiles Vorgehen beruht auf selbstorganisierten Teams, weil divers zusammengesetzte Teams mit Handlungsspielraum die besten Lösungen für komplexe Probleme finden können. Diese Teams übernehmen die Verantwortung für ihr Handeln und ihre Ergebnisse. Im Einzelcoaching übernimmt der Coachee die Verantwortung; der Coach ist lediglich ein Begleiter. Hier sehen wir zwar eine Ähnlichkeit in der Haltung, aber auch einen deutlichen Unterschied im Fokus: Beim agilen Coaching geht es in der Regel um Systeme: Teams oder Organisationen. Der Coach lenkt seinen Blick weg von den Individuen hin zu den Beziehungen zwischen ihnen. Beim Einzelcoaching steht der einzelne Klient im Mittelpunkt. Durch systemische Fragen kann der Coach seinen Coachee dazu anregen, die Auswirkungen auf seine Umgebung zu betrachten.

Fazit

“Coaching ist die Kunst, Menschen auf dem Weg zu Lösungen und auf neuen Wegen zu begleiten.”

Auf meinem eigenen Weg zum Coach ist es mir sehr schwergefallen (und es fällt mir heute immer noch manchmal schwer), zurückzutreten und mich selbst zurückzunehmen in der Überzeugung, dass die Coachees selbst die Experten für ihre Probleme sind und die besten Lösungswege dafür selbst finden werden. Diese Haltung ist eine Voraussetzung für die Entwicklung von Selbstorganisation, die ein wesentliches Element bei der Entstehung von agilen Unternehmen darstellt. Coaches, die diese Haltung durch langjährige Erfahrung verinnerlicht haben, können einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass es beim Agilen Coaching zu nachhaltigen Veränderungen in Unternehmen kommt – besonders in ihrer Arbeit mit Führungskräften.

Zur Autorin des Gastbeitrags

Sabine Canditt ist agile Mindsetterin, Trainerin, Beraterin und Coach in München:

„Als erfahrene Trainerin und Coach für Agilität verstehe ich mich als Rollenmodell für Agiles Mindset. So führe und begleite ich Teams und Unternehmen in ihrer agilen Transition. Aus meiner langjährigen Tätigkeit in großen Unternehmen ist mir bewusst, wie schwer es ist, den längst überfälligen Kulturwandel zu vollziehen. Ich bin davon überzeugt, dass uns emotionale, soziale und System-Intelligenz bei der Lösung dieser Blockaden weiterhelfen können.“

Weitere Informationen über die Arbeit von Sabine Canditt und ihre Kontaktdaten finden Sie unter www.improuv.com/author/sabine.

 

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